(Mit freundlicher Genehmigung des Wort & Bild Verlag)
Fibromyalgie Chronische Schmerzen, die durch den ganzen Körper wandern, kennzeichnen die immer noch rätselhafte Erkrankung
Zuerst tut nur der untere Rücken weh, dann schmerzen irgendwann auch die Sprunggelenke, der Nacken oder die Knie. Doch damit nicht genug: Die quälenden Missempfindungen kommen nicht allein. Sie werden begleitet von Schlafstörungen, geistiger und körperlicher Erschöpfung sowie – wen wundert es? – einer schlechten Gemütsverfassung.
„Das Fibromyalgie-Syndrom ist keine Krankheit im eigentlichen Sinn, sondern der gemeinsame Endpunkt verschiedener Erkrankungen mit Ganzkörperschmerz als Leitsymptom“, sagt Professor Ulrich Egle, ärztlicher Direktor der Celenus-Klinik Kinzigtal in Gengenbach und Experte für Spezielle Schmerztherapie. Die Patienten tragen schwer an diesem Gesamtpaket körperlicher und psychischer Pein. Dass sie keinen organischen Befund haben, vermag sie zwar zu beruhigen, vereinfacht ihre medizinische Versorgung aber nicht unbedingt. „Noch immer gibt es Ärzte, die das Leid der Patienten nicht ernst nehmen, weil es weder durch Röntgenbilder noch durch Laborwerte scheinbar bewiesen wird“, sagt Professor Volker Köllner, Chefarzt der Mediclin Bliestal-Kliniken, einer Fachklinik für psychosomatische Medizin in Blieskastel.
Die Ursache des mysteriösen Leidens ist nach einhelliger wissenschaftlicher Meinung eine Schmerzverarbeitungsstörung. Neue Studien untermauern diese Hypothese. So zeigt zum Beispiel eine Studie unter Beteiligung der Harvard Medical School in Boston (USA), dass bei Fibromyalgie-Patienten neurochemische Prozesse im zentralen Nervensystem beeinträchtigt sind. Dies hat zur Folge, dass die Kranken Schmerzen deutlich intensiver empfinden.
Mithilfe von Magnetresonanz-Aufnahmen belegte die Untersuchung, dass das Gehirn der Betroffenen auf die Ankündigung von Schmerzreizen wie auch auf eine erwartbare Schmerzlinderung ganz anders reagiert als das gesunder Teilnehmer. Vor allem in einem ganz bestimmten Hirnareal, dem sogenannten ventralen Tegmentum, liefen die neuronalen Aktivierungsmuster aus dem Ruder. Es regelt die Ausschüttung von Dopamin, einem schmerzlindernden Botenstoff im Gehirn. Dieser spielt auch beim Wirkmechanismus von Opioiden eine wichtige Rolle, die bei Fibromyalgie aber ohne Wirkung bleiben.
Schmerz kontrollieren
Die Therapie des Fibromyalgie-Syndroms (FMS) setzt in erster Linie auf Symptomlinderung und soll die Patienten dazu anleiten, besser mit dem Schmerz umzugehen und ihn so einigermaßen zu kontrollieren. Das schlägt sich auch in den 2012 aktualisierten ärztlichen Leitlinien nieder. Letztlich bedeutet es aber: „Eine richtige Heilung der Beschwerden von außen ist nicht möglich. Die Betroffenen müssen selbst aktiv werden, um ihr Leid zu lindern“, sagt Köllner. Die gute Nachricht sei jedoch, dass es zahlreiche wissenschaftlich belegte wirksame Möglichkeiten gebe, in den Krankheitsprozess einzugreifen.
Die Ärzte der Leitlinienkommission, der auch Köllner angehört, brechen vor allem für sanftes Ausdauertraining und meditative Bewegungstherapien eine Lanze. Beides verbessert die Körperwahrnehmung der Patienten und bauen Spannungen ab, was sich auch günstig auf den Schlaf auswirkt. Zu empfehlen sind vor allem Walking, Radfahren, Aquajogging und Funktionstraining. Unter den meditativen Körpertechniken hat sich neben Yoga und Tai-Chi das Qigong bewährt, dessen schmerzlindernde Wirkung jüngst auch eine in der Fachzeitschrift Journal of Pain Research veröffentlichte Zusammenfassung verschiedener Studien zeigte. Sehr niedrigschwelliges, leichtes Krafttraining an Geräten ist nach den Leitlinien ebenfalls empfehlenswert. Es helfe, das Vertrauen in den eigenen Körper und dessen Belastbarkeit zu stärken, meint Köllner. Alternative Heilverfahren wie Reiki hielten einer kritischen Nutzenbewertung nicht stand. Auch von Massagen profitieren Fibromyalgie-Patienten kaum – wohl aber von Wärme.
Schmerzmittel sind ebenfalls wenig oder nur sehr eingeschränkt wirksam. Zur Linderung empfehlen die Leitlinien deshalb bei schwerem Verlauf zeitlich befristet das Antidepressivum Amitriptylin in einer Dosierung von 10 bis 50 Milligramm pro Tag. Es greift in die Schmerzverarbeitung im Gehirn ein und lindert auch Schlafstörungen. „Nichtsteroidale Antirheumatika sind nur dann sinnvoll, wenn zusätzlich eine Indikation wie etwa eine Gelenksarthrose besteht“, sagt Köllner.
Stärker die Psyche behandeln
Eine aktuelle Übersichtsarbeit der Cochrane Collaboration bescheinigt zudem der kognitiven Verhaltenstherapie gute schmerzlindernde Effekte. Deshalb wird der Empfehlungsgrad für diese Therapieform in der für 2017 geplanten Aktualisierung der Leitlinien auf jeden Fall nach oben gesetzt werden. Köllner sieht mit dieser Neuerung auch die Bedeutung der multimodalen Versorgung von Fibromyalgie-Patienten gestärkt, die Körper und Psyche der Betroffenen berücksichtigt und im stationären Bereich fest verankert ist.
Ulrich Egle gehen die Leitlinien allerdings auch dann nicht weit genug. Er meint, der praktische Nutzen der Empfehlungen für die Patienten sei recht überschaubar. „Außer dem Ratschlag, sich mehr zu bewegen, findet sich da wenig Greifbares.“ Er schlägt vor, bei der nächsten Überarbeitung der Leitlinien mögliche Ursachen des Fibromyalgie-Syndroms stärker zu berücksichtigen.
Tiefer nach Ursachen forschen
„Nach meiner Erfahrung geht es zu 80 Prozent auf eine Stressverarbeitungsstörung zurück“, sagt Egle. Diese wiederum könne durch eine Reihe psychischer Erkrankungen wie zum Beispiel Angststörungen, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen ausgelöst werden.
Egle schlägt deshalb vor, die Definitionskriterien für das FibromyalgieSyndrom zu präzisieren und mehrere Untergruppen zu bilden. Diese sollten entsprechend der individuellen Hauptproblematik aufgeteilt sein. „Ein Fibromyalgie-Patient mit einem Trauma muss anders behandelt werden als einer mit einer Somatisierungs- oder Angststörung“, meint Egle. Er spricht sich dafür aus, neue krankheitsspezifische und die verschiedenen Schulen übergreifende Psychotherapieverfahren zu entwickeln, die sich vor allem mit Traumafolge- und Bindungsstörungen beschäftigen.
Jüngere Patienten leiden noch mehr
Das Fibromyalgie-Syndrom trifft etwa doppelt so viele Frauen wie Männer. Laut einer in den USA durchgeführten Studie sind mehr als sieben Prozent der Frauen zwischen 60 und 79 Jahren davon betroffen.
Nach einer Untersuchung der Mayo-Klinik in Rochester (USA) sind die Symptome bei jungen Patienten stärker ausgeprägt als bei älteren.
Quelle: Apotheken Umschau 1A/2014 / Autorin: Ute Essig